Der Mythos des Digital Native

In meinem Beitrag „Schule vs. Realität“ habe ich bereits aufgezeigt, dass ein weitverbreiteter Irrglaube, den Einzug digitaler Medien in Schule behindert – der Fehlschluss es gäbe eine Trennung zwischen analoger Wirklichkeit und digitaler Parallelwelt.

Doch leider ist dies nicht der einzige Mythos, dem Eltern und Lehrkräfte verfallen sind. Viel zu häufig hört man im Zusammenhang mit der Mediennutzung von Jugendlichen den leidigen Begriff des „Digital Native“. Dahinter steckt die naive Annahme, dass Kinder und Jugendliche, die in einer zunehmend digitalisierten und mediatisierten Welt aufwachsen automatisch zu kompetenten Mediennutzern heranwachsen. Völliger Quatsch!

Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, sollte man erst einmal hinterfragen unter welchen Bedingungen Kinder und Jugendliche heutzutage Medien nutzen. Ab wann? Wie häufig? Wozu?

 

Mediennutzung von Kindern

Um zunächst zu erfassen ab wann Kinder mit der regelmäßigen Nutzung technischer Geräte wie Smartphones, Spielekonsolen oder Tablets beginnen, empfiehlt es sich einen Blick in die KIM-Studie (Kindheit, Internet, Medien) zu werfen, die Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren in den Fokus nimmt.

Um hier nicht zu sehr mit Zahlen zu jonglieren, hebe ich lediglich wenige Ergebnisse hervor, die mir persönlich aufgefallen sind. Knapp 40% der Kinder interessieren sich sehr für Handys und Smartphones. Etwa 40% der Jungen und 25% der Mädchen sind zudem sehr interessiert an Computern, Laptops und dem Internet. Etwa die Hälfte aller sechs- bis 13-Jährigen besitzt bereits ein eigenes Handy oder Smartphone. 50% der Jungen und etwa 40% der Mädchen besitzen eine eigene Spielekonsole. Computer, Laptops, Tablets und ein eigener Internetzugang sind mit einer Angabe von weniger als 20% eher selten der Fall.

Auf die Frage wie häufig die Kinder ihr Handy oder Smartphone nutzen, gaben 42% an es täglich oder fast täglich zu nutzen. Etwa ein Drittel der Kinder nutzt täglich oder fast täglich das Internet.

Detailliertere Informationen finden sich in der folgenden Galerie. Alle Ergebnisse der KIM-Studie (mit entsprechenden Erläuterungen) sind hier zu finden.

 

Mediennutzung von Jugendlichen

Die folgenden Angaben beziehen sich vorwiegend auf die Ergebnisse der JIM-Studie 2017. In dieser repräsentativen Studie wurden 1.200 Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren deutschlandweit telefonisch befragt.  Die Angaben stammen also von den Heranwachsenden selbst.

Schnell wird hier deutlich, dass digitale Inhalte aus dem Netz bereits fester Bestandteil der Lebenswelt sind. 97% der Jugendlichen besitzen ein eigenes Smartphone und 93% der Befragten gaben an es täglich zu nutzen. Knapp 70% besitzen einen PC oder Laptop. Zudem besitzt ein Großteil der Jungen (63%) eine feste Spielekonsole.

Fast alle Jugendlichen (97%) gaben an das Internet täglich oder mehrmals die Woche zu nutzen.

Betrachtet man die Dauer der täglichen Onlinenutzung fällt zunächst auf, dass sich diese seit 2007 mehr als verdoppelt hat und nach Angaben der JIM-Studie 2017 nun bei durchschnittlich 221 Minuten (≈ 3,5 Stunden) liegt.

Dabei wird das Internet in erster Linie zur Kommunikation genutzt (38%). Auch Unterhaltung spielt eine große Rolle (30%). An dritter und vorletzter Stelle folgen Spiele (20%). Die Informationssuche hat mit lediglich 11% einen geringen Anteil an der Gesamtnutzung des Internets.

Die Rangliste der favorisierten Internetangebote wird angeführt von YouTube, Whatsapp, Instagram und Snapchat. Facebook folgt auf Platz 5, verliert aber sichtlich zunehmend an Bedeutung – vor allem bei den jüngeren Heranwachsenden.

 

Ein Zwischenfazit

Was sagen nun diese ganzen Angaben, Einschätzungen und Daten darüber aus, inwieweit Jugendliche kompetente Mediennutzer sind? Zunächst einmal gar nichts!

Was wir aber daraus herleiten können, ist die Tatsache, dass sie in der Mehrheit unbestreitbar sehr intensive Medienkonsumenten sind. Sie beginnen damit schon früh – im Übrigen werden sie nur selten von Jugendschutzfiltern, eingeschränkter WLAN-Verfügbarkeit oder sonstigen erzieherischen Einschränkungen begleitet.

 

 

Mit zunehmendem Alter nimmt die Mediennutzungsdauer weiter zu. Die passenden Geräte stehen spätestens ab dem 14. Lebensjahr zur Verfügung, einigen bereits deutlich früher. Sie nutzen ihre Möglichkeiten und Freiheiten vorrangig zur Kommunikation und zur Unterhaltung.

Nun wo die Quantität und Intensität des Medienkonsums beleuchtet wurden, widme ich mich qualitativen Aspekten ihrer Nutzung, um darzustellen, dass es sich bei dem gedanklichen Konzept des „Digital Native“ allenfalls um einen Mythos handelt.

 

Medienkompetenzen der Jugendlichen

Die Tatsache, dass nahezu allen Jugendlichen ein eigenes Smartphone zur Verfügung steht, bietet ihnen die Möglichkeit ihren Medienkonsum zu großen Teilen autonom zu gestalten. Zudem sind Errungenschaften wie das Smartphone und das Internet für sie ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltags und ihrer Umgebung. Andere Lebensverhältnisse haben sie nie am eigenen Leib erfahren und sind ihnen lediglich aus Erzählungen von Eltern, Lehrkräften und anderen Erwachsenen bekannt.

Das Smartphone spielt, wie oben dargestellt, eine besonders große Rolle. Es ist ein technisches Multifunktionswerkzeug, das so klein und leicht ist, dass es den Jugendlichen nahezu ständige Verfügbarkeit bietet. Somit kann auch das Internet permanent und an jedem Ort genutzt werden, ein Phänomen, das in der Fachliteratur häufig als „permanently online, permanently connected“ (POPC) bezeichnet wird. Das Internet wird Bestandteil des alltäglichen Handelns. Online- und Offline-Welten lassen sich nicht mehr trennen, sondern sind eng miteinander verknüpft.

Nun nehmen einige Erwachsene fälschlicherweise an, dass aus einem intensiven Konsum und einer permanenten Onlinepräsenz automatisch ein kompetenter, angemessener Umgang erwächst.

Dieser Annahme ging im Jahr 2013 die ICILS-Studie auf den Grund. Hierbei handelt es sich um eine internationale Vergleichsstudie zum sicheren Umgang mit aktueller Computer- und Informationstechnik, die in diesem Jahr in einem ähnlichen Rahmen wiederholt wird. Mit den Ergebnissen ist jedoch erst im Laufe des kommenden Jahres zu rechnen.

Getestet wurden und werden unterschiedliche Kompetenzen, wie z.B. Herangehensweisen bei Online-Recherchen, die Auswahl und Bewertung von verfügbaren Informationsquellen, die Erstellung eigener digitaler Produkte oder die Reflexionsfähigkeit sowie der verantwortungsvolle Umgang mit moderner Medientechnik. Da auch der Anteil der schulischen Bildung bei der Erlangung der genannten Kompetenzen beleuchtet wurde, wurden sowohl Schüler (der 8. Klassenstufe), als auch Lehrkräfte im Rahmen der ICILS-Studie befragt.

Zur Auswertung wurde ein Kompetenzstufenmodell entwickelt, das fünf Abstufungen beinhaltet – von rudimentären und vorwiegend rezeptiven Fertigkeiten (Stufe 1) bis hin zu Fähigkeiten des sicheren und selbstständigen Bewertens und Organisieren sowie der Erstellung eigener digitaler Produkte (Stufe 5). Auf dieser Grundlage ließen sich nun die Teilnehmer der Studien einordnen.

Auch an dieser Stelle werde ich davon absehen die Ergebnisse im Detail darzustellen und lediglich wichtige Erkenntnisse hervorheben.

Sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Teilnehmerländern lassen sich nur sehr wenige Jugendliche der höchsten Kompetenzstufe zuordnen. Auffällig ist jedoch das andere Ende des Spektrums. Fast ein Drittel (29,4%) der deutschen Teilnehmer erreicht lediglich Kompetenzstufe 1 oder 2 und weist somit nur rudimentäre oder basale Kenntnisse bei der digitalen Informationsgewinnung und -verarbeitung auf.

Der größte Teil der Jugendlichen (in Deutschland sowie international) ist dem mittleren Kompetenzbereich, Stufe 3, zuzuweisen. Sie können Informationen unter Anleitung ermitteln und Dokumente mit Hilfestellungen bearbeiten. Nur knapp ein Viertel ist in der Lage selbstständig Informationen zu recherchieren und sinnvoll zu organisieren.

 

Schlussfolgerungen

Ohne Zweifel gehen Jugendliche im Großen und Ganzen anders mit modernen technischen Geräten wie Smartphones oder Tablets um. Sie bedienen diese intuitiver als die meisten Erwachsenen und haben ein großes Interesse sich mit diesen auseinanderzusetzen.

Entscheidend bei der Bewertung ist vermutlich der Kompetenzbegriff, den wir in diesem Zusammenhang nutzen. Die ICILS-Studie zeigt, dass viele Heranwachsende nicht in der Lage sind Informationen gezielt zu finden, zu sortieren und daraus eigene digitale Produkte herzustellen. Zudem zeigt meine Alltagserfahrung, dass Jugendliche häufig Schwierigkeiten haben zu bewerten welche Daten und Informationen man im Netz teilen sollte und welche nicht.

 

Meine erste These lautet deshalb:

Viele Jugendliche erlangen durch das Aufwachsen in einer stark digitalisierten und mediatisierten Umwelt eine hohe Technik- oder Bedienkompetenz von Smartphones und weiteren häufig genutzten Geräten. Dies bedeutet aber längst nicht, dass sie dabei auch eine entsprechende Medienkompetenz erwerben. Diese kann nur angebahnt werden durch regelmäßige Reflexion der Geräte- und Internetnutzung. Hierfür brauchen die Jugendlichen enge Begleitung von Erwachsenen, wie Eltern oder Lehrkräften.

 

Die JIM-Studie zeigt, dass die Smartphones vorrangig zur Kommunikation und zur Unterhaltung genutzt werden. Dies deckt sich mit Beobachtungen aus dem Schulalltag und ausgiebigen Unterhaltungen mit Jugendlichen. Die meist genutzten Apps sind alle aus den Bereichen Social Media und Video-Streaming.

 

Meine zweite (vermutlich sehr gewagte) These ist:

Es gibt einen grundlegenden Unterschied bei der Internet- und Smartphonenutzung von Erwachsenen und Jugendlichen. Im Allgemeinen neigen Erwachsene eher dazu das Smartphone als Werkzeug zu verwenden und dabei ein konkretes Ziel zu verfolgen, während das Smartphone bei Jugendlichen sehr häufig einem Selbstzweck dient – es ist ständig verfügbar, also wird es auch genutzt.

Die Handlungen sind hier oft nicht zielgerichtet, sondern dienen vielmehr dem bloßen Zeitvertreib.

 

Bevor in den Kommentaren nun wilde Widersprüche folgen: Mir ist durchaus bewusst, dass es auch unter Erwachsenen viele Smartphonenutzer gibt, die regelmäßig Messenger-Apps, soziale Netzwerke oder auch Spiele verwenden. Dennoch behaupte ich, dass diese grundlegend verschiedenen Herangehensweisen in der breiten Masse bestätigt werden.

Dies liegt zum Teil an der unterschiedlichen Sozialisation der Generationen, aber auch daran, dass Erwachsene viel häufiger gezwungen sind zielorientiert zu handeln, während sich für Jugendliche, die in der Regel deutlich weniger Verantwortung tragen müssen, häufig auch keine Notwendigkeit ergibt, das Smartphone als Instrument zur Problemlösung einzusetzen.

Erwachsene nutzen das Smartphone beispielsweise als Navigationsgerät, wenn sie irgendwo hinwollen, Kalender- und To-Do-Listen-Apps erleichtern ihnen die Organisation des privaten und beruflichen Alltags, die Verfügbarkeit von Nachrichten oder die Möglichkeit der schnellen Recherche ermöglicht es ihnen stets auf dem neusten Stand zu sein, durch das Versenden von E-Mails lassen sich selbst von unterwegs oder außerhalb der regulären Arbeitszeiten berufliche Aufgaben erledigen, mit wenigen Klicks lassen sich online Produkte kaufen, sogar alltägliche Dinge wie Bus- oder Bahntickets und manchmal sind es schon kleine Hilfsprogramme wie die Kamera, die Taschenlampe oder der Taschenrechner, mit denen Probleme gelöst oder Ziele erreicht werden.

Das Smartphone mit seinen vielen Apps ist sozusagen ein digitales Schweizer Taschenmesser.

 

Meine dritte (und letzte) These lautet:

Eltern und Lehrkräfte, Erwachsene im Allgemeinen, haben in der Regel eine deutliche höhere Medienkompetenz als Jugendliche. Die Heranwachsenden finden sich mit technischen Neuerungen zwar oft besser zurecht, aber Technikkompetenz ist nur ein kleiner Teilbereich der Medienkompetenz.

Viel schwerwiegender ist der sensible und reflektierte Umgang mit Medien und mit den eigenen Daten und Informationen im Netz.

 

Sollen Jugendliche sich diesen Teilaspekt selbst aneignen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dabei unangenehme Fehltritte leisten, hoch. Jugendliche benötigen Begleitung und müssen bei diesen Prozessen angeleitet werden. Allein aufgrund der permanenten Verfügbarkeit von Smartphone und Internet, sind sie nicht automatisch in der Lage bewerten zu können welche Informationen sie im Netz teilen und preisgeben können. Auch die Handhabung von Daten anderer, ein angemessener Umgang miteinander über Social Media oder Messenger oder die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes von Meldungen aus dem Internet sind schwer zu erlernende Prozesse und bedürfen Unterstützung.

Lassen wir uns nicht einschüchtern von der selbstbewussten Technikkompetenz. Lasst uns diese Ressource stattdessen nutzen, wenn unsere eigenen Fertigkeiten an ihre Grenzen stoßen.

Gleichzeitig dürfen wir uns aber nicht dem Irrglauben hingeben, dass dieses Können mit einer umfangreichen Medienkompetenz gleichzusetzen ist. Jugendliche benötigen unsere Begleitung und Beratung. Wir müssen gemeinsam reflektieren. Dies können wir aber nur tun, wenn wir dafür einen Rahmen schaffen. Es ist wenig hilfreich, wenn wir die Nutzung der Geräte aus dem schulischen Kontext verbannen. Vielmehr haben wir die Pflicht sie einzubinden und den Schülerinnen und Schülern sinnvolle Verwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Schließlich muss es unser Bestreben sein ihnen ein zielorientiertes und verantwortungsvolles Handeln zu vermitteln.

Die Jugendlichen sind keine Digital Natives. Medienkompetenz kommt nicht von allein, sie muss gemeinsam erlernt werden. Smartphones sollten nicht aus dem Schulleben verbannt, sondern viel eher sinnvoll integriert werden.

 

 

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